„Wer, wenn nicht wir, wenn nicht jetzt, wann dann, feiern wir gemeinsam das Leben?“
Erst leise, dann laut singt die fünfköpfige Singgruppe die Liedstrophe. Musiktherapeut Norbert Forcher lächelt, während er die Begleitmusik am Keyboard spielt und die Tonlage vorgibt.
Seine Musikschüler, die an psychischen Erkrankungen leiden, sind heute gut gelaunt und motiviert, denn sie haben ein Ziel vor Augen. Am Donnerstag, 22. Mai, feiern sie zusammen mit ihren Betreuern und Besuchern gleich doppelt Geburtstag. Ihr Wohnheim St. Hildegard besteht seit 30 Jahren und die angeschlossene Tagesstätte Leo 9 ist seit 25 Jahren ein offener Treffpunkt.
Beide sozialen Einrichtungen werden vom Caritasverband für den Landkreis Rastatt getragen. St. Hildegard bietet eine zeitgemäße Wohnform für psychisch Erkrankte ab 18 Jahren an, die dauerhaft auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. "Wir sprechen lieber von Menschen mit seelischer Behinderung", sagt Nathalie Delpech-Thomas. Das Betreuungskonzept sieht vor, den Bewohnern individuell eine selbstständige Lebens- und Haushaltsführung zu ermöglichen.
Delpech-Thomas leitet zusammen mit Mandy Kreuzinger als Doppelspitze das Wohnheim und die Tagesstätte in Rastatt. Der Fokus der kostenfreien Tagesstätte richtet sich an temporär oder chronisch Erkrankte, die in ihren eigenen vier Wänden wohnen können, aber eine stabilisierende Tagesstruktur benötigen. "Wir möchten den Menschen mit seelischer Behinderung das geben, was sie sich am meisten wünschen, nämlich selbstbestimmt und in Würde zu leben", sagt Delpech-Thomas und kritisiert zugleich deren gesellschaftliche Stigmatisierung.
Seelische Erkrankungen werden auch deshalb unsichtbare Krankheiten genannt, weil Außenstehende nicht sehen, wie und woran der Betroffene leidet. Auslöser können das soziale Umfeld, Krankheiten, Unfälle oder genetische Veranlagung sein. Laut Bundesministerium für Gesundheit gibt es bundesweit knapp 18 Millionen Betroffene, die mit teilweise schwerwiegenden Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben zu kämpfen haben. Für die Angehörigen ist das ein schweres Los, besonders wenn Kinder involviert sind. Psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage im Beruf und einer der häufigsten Gründe für Frühverrentungen.
Delpech-Thomas sieht in den Leitlinien der Psychiatrie-Reform, die 1975 initiiert wurde und kontinuierlich angepasst wird, die Basis für eine funktionierende wohnortnahe Versorgung und ambulante Betreuung. "Vor der Reform wurden seelisch Erkrankte per se als geistig behindert gesehen und in großen dezentralen Einrichtungen untergebracht, die Zustände in den einstigen Heil- und Pflegeanstalten waren teilweise menschenunwürdig."
Als positiv wertet die Leiterin die fachliche Zusammenarbeit im gemeindepsychiatrischen Verbund unter der Leitung des Amtes für Soziales, Teilhabe und Versorgung des Landkreises Rastatt. Hier werden sozialpsychiatrische Dienste aus der Region miteinander vernetzt, um eine bedarfsgerechte Versorgungsstruktur zu gewährleisten. "In St. Hildegard betreuen wir aktuell 34 Bewohner in einer Altersspanne von 19 bis 80 Jahren", so Delpech-Thomas und ergänzt, dass aufgrund der gestiegenen Nachfrage inzwischen eine Warteliste geführt werde.
Für die 24-Stunden-Betreuung arbeitet ein multiprofessionelles Team aus 31 Mitarbeitern Hand in Hand. Welche psychischen Erkrankungen standen 1995 bei der Gründung des Wohnheims im Vordergrund? "Depressionen, Manie und Melancholie, heute sind es mehr Angst- und Zwangsstörungen, Psychosen, Burnouts und Suchterkrankungen." Die meisten der psychischen Erkrankungen seien gut behandelbar, aber ein Problem seien die langen Wartezeiten für eine ambulante Therapie.
Als soziale Einrichtung des Caritasverbands finanzieren sich das Wohnheim und die Tagesstätte aus Eigenmitteln, sind aber auch auf finanzielle Unterstützung seitens der Kommunen angewiesen. In Zeiten knapper Kassen ist ein Tag der offenen Tür eine gute Gelegenheit zum persönlichen Austausch, findet Delpech-Thomas.
Sie wünscht sich, dass die Besucher ohne Scheu mit den Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern ins Gespräch kommen: "Wer sich die Räumlichkeiten anschaut und den Alltagsablauf näher kennenlernt, wird vielleicht eine neue Sichtweise gewinnen."
Text & Bild: Tanja Schlögel, BNN